Mittwoch, 28. September 2011

Das Mädchen im roten Kleid

„Hilf mir…“ flüstert das Mädchen im roten Kleid. Sie hockt in einer Ecke des Raumes. Ich stehe am offenen Fenster, auf der anderen Seite. Zwischen uns liegt die Leere des kleinen Zimmers, das vielleicht 4 Schritte zu allen Seiten misst. Ihr rotes Kleid spannt sich um ihre Knie, während sie hinter den Händen ihr Gesicht verbirgt. Sie streicht sie mit Druck auf und ab und durch ihre gewellten schwarzen Haare. Mit einem Ruck richtet sie sich zu voller Größe auf. Ihr Busen hebt und senkt sich in schnellem Rhythmus. „So steh nicht so verdammt nutzlos rum! Lass dir verdammt nochmal helfen!“ Schreit sie mich an. Ich sehe sie an, sehe in ihre wutverzerrten Augen. Erschüttert, doch ohne Regung erwidere ich ihren Blick. Ich will die Arme heben, die Füße vom Boden lösen, ihr entgegenstürzen. Zu ihr. Auf sie zu. Keinen einzigen Schritt, keine Rührung kann ich meinem Körper abgewinnen. Die Arme hängen regungslos verkrampft in den Ärmeln meines Jacketts. Der Wille reißt wie an einem unbeweglichen Fels. Ich, ein Stein der nicht rollt, bin handlungsunfähig. Das Herz springt und schlägt gegen die Wände meiner Brust, versucht zu entrinnen und will ihr zu Füßen springen. „Ich kann nicht“ wispere ich. Noch immer sieht sie mich an, durchdringt mich durch und durch. Ich ertrage ihren Blick nicht. Wende mich ab, dem Fenster zu und starre hinab. „Feigling.“ Bemerkt sie. Ihre Bemerkung sticht, sie schmerzt und doch rühre ich mich noch immer nicht. Kein Vor, kein Zurück. Ich blinzele Sie an, sehe zur Tür, um dann wieder aus dem Fenster zu starren, als erwarte ich eine plötzliche Antwort von irgendwo dort draußen. Obschon ich die Frage nicht kenne. Tränen rinnen ihre verzerrten Wangen herab und reißen das verschleiernde Schwarz um ihre Augen mit. Ihre Augen sind stechend auf mich gerichtet und ihr Mund ist gezeichnet von verzweifelter, schreiender und speiender Wut. Doch Keine Schwäche offenbart diese Verzweiflung, ihre Tränen oder ihre verzehrende Wut, sondern ungebrochene Stärke und ungetrübte Leidenschaft, die keine Wege weiß und keine Richtung mehr kennt. Sie ist schön. Ihr hochrotes Gesicht, in dem Tränen die Sommersprossen auf ihren Wangen umspielen und ihr voller weicher Mund, der noch an ihr liebreizendes und völlig unbeschwertes Lächeln erinnert, zeugen von unvergleichlicher Schönheit. Im Gedanken daran sehe ich sie, noch dem Fenster zugewandt, lange an. Ich liebe sie und liebe alles an ihr. Dennoch ist es nur die Liebe die ich liebe und in ihr verkörpert finde, fürchte ich und weiß es doch nicht. Sie hat Recht. Ich bin ein Feigling und noch in meiner Liebe ein grenzenloser Egoist. Sie geht einen Schritt auf mich zu, bleibt abrupt stehen und sieht mich nun voll Mitleid an. Ihre Wut scheint plötzlich verflogen. Erwartungsvoll drehe ich mich ihr wieder ganz zu und wartend steht sie in der Mitte des Raumes. Doch ich blicke wieder zu Boden. Kurz auf und wieder hinab. Die Furcht, beim Heben meines Blickes ihrem wieder zu begegnen, lähmt mich und lässt mich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Der Wind, durch das offene Fenster hindurch, streicht ihr um die Beine und hebt das blutrote Kleid. Ich spüre ihren Blick auf mir und plötzlich schlagen die Flammen wieder hoch. Als ob der Wind ihr wütendes Feuer erneut entfacht hätte, dreht sie sich abrupt zur Tür um und rüttelt, mit beiden Händen umfassend, an der Türklinke. Die massive Tür rührt sich nicht, während sie an der bedrohlich lockeren Klinke reißt. Sie drückt sie schnell auf und ab, zieht und stemmt sich gegen die Tür. Die Hand noch an der Klinke, dreht sie sich wieder zu mir um und sieht in mein erschrockenes Gesicht. Dreht sich abermals zur Tür herum und hämmert nun mit beiden Fäusten gegen die Tür. Lang, bis sie irgendwann Kopf und Hände sinken lässt. Sie sind wund und rot. Sie führt die rechte, wieder zur Faust geballte Hand zum Mund und beißt in den Knöchel ihres Zeigefingers. Ich erinnere mich an den Schlüssel in meiner Hosentasche. Sie hatte mich gebeten abzuschließen. Ich fand es lächerlich, doch ich fragte nicht weiter. Tat es und steckte den Schlüssel wieder in die Tasche. Nun steht sie zwischen mir und der Tür und will selbst hinaus. Weg von mir. Ich verstehe sie gut. Würde ich doch selber vor mir davonrennen, wenn ich könnte. Wenn ich das schon nicht kann, so will ich zumindest aus diesem Zimmer flüchten! Diesem Zimmer, in dem ich selbst ausgebreitet und aufgequirlt in der Luft hänge. Sie hatte es aufgewühlt! Die ganze Scheiße hat sie hervorgezogen und darin herumgewühlt! Hasserfüllt sehe ich sie an und nichts. Die Welle des Hasses verebbte so schnell wie sie sich auftürmte. Erschöpft sieht sie mich an und wieder von mir weg. Sie hatte es bemerkt und ich fühlte mich schuldig. Warum fragt sie nicht nach dem verdammten Schlüssel und geht?! Ich fahre mit der rechten Hand in die Hosentasche und greife nach ihm. Doch ich ziehe ihn nicht hervor. Ich schließe die Hand um ihn und halte ihn fest gedrückt. Der Schlüssel bohrt sich in meinen Handballen. Ich kann sie nicht gehen lassen. Aber ich werde gehen. Ich sehe zum offenen Fenster und mache einen Satz hinaus. Ich ergreife wieder die Flucht, wie sie es erwartet hatte. Im Flug erinnere ich mich, wie ich sie das erste Mal sah. Das gleiche widerwärtige Gefühl, wie in jenem Augenblick, machte sich in mir breit. Angst gepaart mit ohnmächtiger Hoffnung. Ich hatte Erleichterung erwartet. Doch dieses altbekannte Gefühl ist nun unendlich quälend. In der Hand noch den Schlüssel, schlägt mein Schädel auf den Asphalt. Der Kopf gibt nach und endlich Ruhe.
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Die Phiole des Homunkulus

"Gib nach dem löblichen Verlangen - Von vorn die Schöpfung anzufangen, - Zu raschem Wirken sei bereit! - Da regst du dich nach ewigen Normen, - Durch tausend abertausend Formen, - Und bis zum Menschen hast du Zeit."

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